Zum 41. Mal legt der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) den Wahrnehmungsbericht der österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte vor. „Es ist unser gesetzlicher Auftrag und unsere gesellschaftliche Pflicht, die Rechtspflege und Verwaltung in Österreich zu beobachten und durch die Aufzeichnung dieser Beobachtungen staatlichem Fehlverhalten entgegenzuwirken“, erklärte ÖRAK-Präsident Rupert Wolff anlässlich der heutigen Präsentation des Wahrnehmungsberichtes 2014/15.
Gesetzgebung: Wenig Transparenz, kurze Begutachtungsfristen, Regulierungsflut, Vertrauensverlust der Behörden in die Bürger
In einem eignen Kapitel befassen sich die Rechtsanwälte in ihrem Wahrnehmungsbericht mit dem Thema Gesetzgebung und orten bedenkliche Entwicklungen, wie etwa die Nichteinhaltung der vom Bundeskanzleramt empfohlenen Begutachtungsfrist in zahlreichen Fällen. Gerade in jüngster Zeit seien vermehrt Maßnahmen beschlossen worden, die kritikwürdig seien, so Wolff. Die Neugestaltung der Grunderwerbsteuer sei vor allem hinsichtlich ihrer komplizierten, für viele Bürger nur schwer nachvollziehbaren, Regelungen zu hinterfragen und verursache spürbare Unsicherheit in der Bevölkerung. „Aktuell steht der Bürger vor der Situation, nicht abschätzen zu können, ob, wann und mit welcher Steuerbelastung die Übergabe einer Liegenschaft abgewickelt werden soll“, so Wolff.
Insgesamt vermissen die Rechtsanwälte die notwendige Transparenz im Gesetzgebungsprozess und immer wieder auch die sachliche Notwendigkeit diverser Gesetzesvorhaben. „Im Berichtszeitraum war der Österreichische Rechtsanwaltskammertag mit mehr als 250 Verordnungs- und Gesetzesentwürfen befasst“, erklärt Wolff. Ein Beispiel für die immer stärker werdende Regulierungsflut sei das Asyl- und Fremdenrecht: „Bereits zum 13. Mal in zehn Jahren wurde auch dieses Jahr eine Novelle des Fremdenrechts vorgenommen. Abgesehen von den inhaltlichen Kritikpunkten ist dieses Rechtsgebiet aufgrund der häufigen Novellierungen sogar für Experten kaum mehr zu durchblicken“, so Wolff. Für die Betroffenen selbst sei es daher so gut wie unmöglich, die aktuelle Gesetzeslage zu erfassen.
Wolff: „Massive Eingriffe in Grund- und Freiheitsrechte bezeugen Vertrauensverlust der Behörden in die Bürger“
Kritik üben die Rechtsanwälte in ihrem Wahrnehmungsbericht insbesondere an der Tendenz, immer tiefer in Grund- und Freiheitsrechte der Bürger einzugreifen. „Die aktuellen Reformbestrebungen der Bundesregierung bezeugen einen enormen Vertrauensverlust der Behörden in die Bürgerinnen und Bürger. Das geplante Polizeiliche Staatsschutzgesetz schafft erweiterte, teilweise unverhältnismäßige Eingriffsbefugnisse der Behörden in die Privatsphäre der Bürger, beispielsweise durch den Einsatz sogenannter „V-Leute““, warnt Wolff. Auch die Abschaffung des Bankgeheimnisses werten die Rechtsanwälte als „Schritt des Staates weg von den Bürgern“. Rechtsanwälte-Präsident Wolff: „Man mag diese Maßnahme werten wie man will, jedenfalls aber ist es eine Entwicklung, die den Bürger von seinem Staat entfernt, weil dieser sich von ihm entfernt. Die Sicherung des sozialen Friedens und des Rechtsstaates lässt sich nicht durch die schrankenlose Überwachung der Bürger erzielen, sondern durch Kontrolle der staatlichen Behörden!“.
Rechtsanwälte gegen Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung
Einer immer wieder ins Spiel gebrachten Wiedereinführung der vom Verfassungsgerichtshof und vom Europäischen Gerichtshof im Vorjahr aufgehobenen Vorratsdatenspeicherung erteilen die Rechtsanwälte eine klare Absage. Vielmehr fordern die Rechtsanwälte weiterhin eine Evaluierung aller seit dem 11. September 2001 in Österreich erfolgten Verschärfungen im Bereich Überwachung durch eine unabhängige Expertenkommission sowie die Umsetzung ihrer Empfehlungen. „Einer höchstgerichtlichen Entscheidung sollte Respekt beigemessen und diese nicht durch die Wiedereinführung bereits als nicht grundrechtskonform bewerteter Regelungen übergangen werden“, mahnt Wolff.
Strafverfahren: Lackmustest für eine objektive, unabhängige und faire Justiz
Zahlreiche Wahrnehmungen aus dem Bereich Strafverfahren haben auch in diesem Jahr stark mit dem Thema Akteneinsicht zu tun. „Die Verweigerung des Rechtes auf rasche und umfassende Akteneinsicht ist eine massive Einschränkung der Verteidigungsrechte und des Grundrechts auf ein faires Verfahren“, kritisiert Wolff. Es dürfe in einem demokratischen Rechtsstaat nicht vorkommen, dass Akteneinsicht zum Spießrutenlauf wird und von der Laune einzelner Sachbearbeiter abhängig ist, wie es in einem Kärntner Fall geschehen sei (siehe Bericht S. 18). Oft sei es nicht einmal möglich zu erfahren, wo sich der Akt überhaupt befinde. „Das ist eines Rechtsstaates unwürdig“, so Wolff. Ebenso sei es nicht zu akzeptieren, wenn ein eingestelltes Ermittlungsverfahren wieder aufgenommen wird, ohne den Betroffenen oder dessen Rechtsanwalt darüber in Kenntnis zu setzen. Auch im Verwaltungsverfahren gebe es laufend Beschwerden über verweigerte oder erschwerte Akteneinsicht. „Wir fordern auch im Verwaltungsverfahren eine höhere Kooperationsbereitschaft der Behörden. Das Recht auf Akteneinsicht muss in jedem Fall – egal um welches Verfahren es sich handelt – gewahrt bleiben“, so Wolff.
Ebenso kritisieren die Rechtsanwälte das Verhalten mancher Richter. Unangebrachte Äußerungen eines Richters, wie jene, ob sich der Angeklagte „von Mandl auf Weibl umoperieren“ habe lassen (Bericht S. 20) oder zur Schau gestelltes Desinteresse und Hochmut seien völlig deplatziert und schlichtweg zu unterlassen, so Wolff. „Unser Rechtsstaat lebt von dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihn“, erklärt Wolff. „Derartige Äußerungen haben in einem Gerichtssaal nichts verloren und führen unweigerlich dazu, dass das Gericht von den Bürgern nicht mehr ernst genommen wird“, so Wolff. Auch wenn es sich um Einzelfälle handle, schaden diese dem Rechtsstaat massiv. Gerade das Gericht sei dazu berufen, die Bürger mit Respekt und Würde zu behandeln.
Zivilgerichtsbarkeit: Verständigungen durch Gerichte als Problemfelder
Im Zivilverfahren treten nach wir vor laufend Probleme in Zusammenhang mit der An- und Abberaumung von Verhandlungen sowie durch Verfahrensverzögerungen auf. Immer wieder kommt es vor, dass Gerichte weder den Rechtsanwalt noch den Mandanten rechtzeitig von der Abberaumung einer Verhandlung informieren (Bericht S. 22). Andererseits erfolgen auch äußerst kurzfristige Ausschreibungen von Verhandlungen (zB 5 Tage vor dem Termin), die eine professionelle Vorbereitung nicht mehr gewährleisten und die in der Zivilprozessordnung festgelegte Mindestfrist von drei Wochen vom Zeitpunkt der Zustellung der Ladung bis zur Verhandlung deutlich unterschreiten. „Besonders ärgerlich ist, dass dem Ansuchen um Terminverlegung in derartigen Fällen seitens der Gerichte nicht immer nachgekommen wird“, so Wolff. Es sei wünschenswert, dass sich auch die Gerichte an den Grundsätzen professionellen Zusammenarbeitens orientieren. „Was im beruflichen Alltag der Bürger selbstverständlich ist, scheint in manche Behörden unseres Landes leider noch nicht Einzug gehalten zu haben“, bedauert Wolff. Es sei für die Bürger nicht nachvollziehbar, wenn sich die Gerichte selbst nicht an die gesetzlichen Regelungen halten.
Verfahrensverzögerungen im Zivil-, Außerstreit- und Verwaltungsverfahren
Laufend wird weiterhin über Verfahrensverzögerungen berichtet, die sich zum Teil über viele Jahre ziehen. Der von einer Niederösterreichischen Rechtsanwältin geschilderte Fall, in dem es um einen im Jahr 2005 eingebrachten Antrag auf Benützungsregelung unter Miteigentümern im außerstreitigen Verfahren geht, sei dafür exemplarisch im Bericht hervorgehoben, so Wolff (S. 27). Infolge von Richterwechseln und Abberaumungen sei es im konkreten Fall immer wieder zu Verfahrensverzögerungen gekommen. Nach fast achtjähriger Verhandlungsdauer sei das Verfahren über die Benützungsregelung letztendlich erst am 5. September 2013 geschlossen worden. Vom Verhandlungsrichter sei eine zügige Erledigung des Aktes und eine baldige Entscheidung angekündigt worden. Nach mehreren telefonischen Anfragen und Urgenzen der Kollegin sei schließlich am 30. Mai 2014 der Beschluss ergangen. Im Zuge eines Telefonats habe sie in Erfahrung gebracht, dass der Beschluss aufgrund des nicht eingebrachten Rechtsmittels rechtskräftig sei. Am 1. Dezember 2014 habe die Kollegin dann einen Anruf vom Verhandlungsrichter erhalten, welcher ihr mitteilte, dass vom Antragsgegner am 2. Juli 2014 ein Rekurs gegen den betreffenden Beschluss erhoben worden sei. Der gesamte Akt sowie der Rekurs seien in Verstoß geraten und erst später wieder aufgefunden worden.
Zu wenig Personal trotz voller Kassen
„Als Gründe für derartige Verzögerungen werden von den betroffenen Richtern oder Rechtspflegern oft Überlastung und fehlende Personalressourcen genannt“, erklärt Wolff. „In Anbetracht der in Österreich einzigartigen Gebührensituation – als einziges europäisches Land nimmt Österreich über Gerichtsgebühren mehr ein, als der Gerichtsbetrieb insgesamt kostet – ist davon auszugehen, dass ausreichend Mittel für die notwendige personelle Ausstattung der Gerichte vorhanden sein müssen. Hier besteht Handlungsbedarf!“, so Wolff.
Verständlichkeit: Bürgernahe Justiz muss in der Sprache der Bürger sprechen
„Die Justiz muss von den Bürgern verstanden werden, um akzeptiert zu werden“, betont Wolff. In der Praxis bestehen insbesondere in Zusammenhang mit diversen Rechtsbelehrungen, die schon seit Jahrzehnten verwendet werden, Probleme (Bericht S. 22). „Wir fordern die Überarbeitung veralteter Rechtsbelehrungen. Diese müssen in einer für die Bürger verständlichen Sprache abgefasst werden“, fordert Wolff. In Anbetracht der drohenden Folgen, wenn Rechtsbelehrungen falsch oder gar nicht verstanden werden, sei eine Aktualisierung dringend erforderlich.
Beschuldigter als Dolmetscher für weiteren Beschuldigten?
Beschwerden gebe es auch in Zusammenhang mit der Beiziehung von Dolmetschern, berichtet Wolff. So sei etwa im Rahmen eines schon länger zurückliegenden Verwaltungsstrafverfahrens in Klagenfurt ein ausländischer Beschuldigter ohne Dolmetsch vernommen worden (Bericht S.30). Die Vernehmung des zweiten, ebenfalls ausländischen, Beschuldigten habe daraufhin unter Beiziehung des ersten Beschuldigten als Dolmetscher stattgefunden. Der Verwaltungsgerichtshof habe später in seinem Erkenntnis ausgeführt, dass auch andere „geeignete“ Personen als Dolmetscher von der Behörde beizuziehen seien, wenn Amtsdolmetscher nicht zur Verfügung stehen. „Ich meine, dass es in einem Rechtsstaat wie Österreich nicht vorkommen darf, dass die Behörde einen Beschuldigten für die Vernehmung eines anderen Beschuldigten als „geeigneten“ Dolmetscher heranzieht. Die Optik ist schlichtweg katastrophal“, so Wolff.
Wolff kündigt Indikator zur Messung und Sichtbarmachung von rechtsstaatlicher Entwicklung an
„Insgesamt ergibt der Wahrnehmungsbericht ein Bild, das absolut verbesserungswürdig scheint. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Justizverwaltung müssen besser werden. Unser Rechtsstaat hat es verdient, an hohen Ansprüchen gemessen zu werden und wir Rechtsanwälte fordern von Österreichs Politik und den Justizbehörden mehr als nur Mittelmaß. Wir arbeiten mit Experten fieberhaft an einem neuen Indikator zur Darstellung von Rechtsstaatlichkeit und ihrer Entwicklung, um Verbesserungsbedarf noch klarer und transparenter vortragen zu können. Die österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind Anwälte der rechtsuchenden Bürger; wir sind aber auch die Anwälte des Rechtsstaates. Weil er unsere Berufsgrundlage ist und weil es unsere Pflicht als rechtskundige Staatsbürger ist, dorthin zu zeigen, wo dem Rechtsstaat und damit der Gesellschaft Schaden zugefügt werden könnte“, so Wolff abschließend.
Der Wahrnehmungsbericht des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages ist unter www.rechtsanwaelte.at online abrufbar.