Utl.: Der jährliche Wahrnehmungsbericht der österreichischen Rechtsanwälte zeigt Schwachstellen in Gesetzgebung und Verwaltung sowie Verbesserungspotenzial in der Justiz
Der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) ist per Gesetz mit der Erstellung eines jährlichen Wahrnehmungsberichtes beauftragt, der ab sofort unter www.rechtsanwaelte.at (Menüpunkt Stellungnahmen/Wahrnehmungsbericht) zum Download zur Verfügung steht. Dieser Bericht beinhaltet Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit der Justiz und Verwaltung aus dem Kreis der 5700 heimischen Rechtsanwälte und 1900 Rechtsanwaltsanwärter. Es werden darin sowohl Einzelfälle als auch systematische Fehlentwicklungen kritisch aufgezeigt und Verbesserungsvorschläge gemacht. Außerdem enthält der Bericht einen allgemeinen Teil, der sich sowohl mit der heimischen Gesetzgebung und Justizpolitik, als auch mit Entwicklungen auf EU-Ebene auseinandersetzt. „Es handelt sich um eine Fieberkurve des Rechtsstaates, die wir heuer bereits zum 38. Mal erstellen“, erklärt ÖRAK-Präsident Dr. Rupert Wolff anlässlich der heutigen Präsentation des diesjährigen Wahrnehmungsberichtes. Wolff lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Rechtsanwälte ihren Bericht als ersten Maßnahmenkatalog für notwendige Verbesserungen im justiziellen Umfeld verstehen: „Wir sind nicht mehr bloß Diagnostiker des Patienten Rechtsstaat, ab sofort werden wir auch federführend bei der Therapie mitwirken.“ Ziel sei es schließlich, Justiz und Verwaltung für die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmbar zu verbessern.
Wolff hat mit seinem Amtsantritt als ÖRAK-Präsident die „Initiative Justiz“ ins Leben gerufen. Richter, Staatsanwälte, Rechtspfleger, Rechtsanwälte, Notare und Justizministerium schaffen dabei gemeinsam einen Masterplan um der österreichischen Justiz das Vertrauen der Bevölkerung zurückzubringen. Der Wahrnehmungsbericht des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages dient dabei als wichtige empirische Grundlage für die ersten Maßnahmen und Schritte der „Initiative Justiz“.
Zwtl.: Wahrnehmungsbericht – Fieberkurve des Rechtsstaates
Ein Haupterkenntnis des vorliegenden Berichtes ist, dass sich viele Dinge relativ einfach verbessern und damit Probleme beseitigen ließen. Potenzial für Effizienzsteigerungen ist ausreichend vorhanden, etwa bei den Ladungen im Zivilverfahren (siehe Wahrnehmungsbericht Seite 37/38), bei Urkundenübermittlungen (Seite 38), beim Verfahren zur Aufenthaltsbewilligung (Seite 47) aber auch grundsätzlich bei der Ansetzung von Verhandlungsterminen, insbesondere in Verfahrenshilfefällen (Seite 32/33), bei der Fristsetzung für Sachverständige (Seite 35) und bei der Gewährung des Rechtes auf Akteneinsicht im Asyl- und Strafverfahren (Seite 25 bzw 30/31). Gemeinsam mit allen Beteiligten könne man in all diesen Bereichen wesentliche Verbesserungen erzielen, so Wolff.
Aber auch struktureller Verbesserungsbedarf im System Justiz ist mannigfaltig möglich. So könnte der lange angekündigte elektronische Strafakt weitere wesentliche Vereinfachungen und Verfahrensbeschleunigungen bewirken. Auch der Rechtsstaat als solcher müsse gestärkt werden. „Wenn die Strafverfolgungsbehörden mehr Möglichkeiten für ihre Aufgabe im Staat erhalten ist es gleichzeitig notwendig den Rechtsschutz auf Seiten der Betroffenen zu verbessern. Das ist bisher nicht der Fall. Ein stärkeres politisches Signal für eine solche Entwicklung ist notwendig“, so Wolff. Grundrechtschutz sei oberstes Gebot einer Demokratie.
Zwtl.: Problemfelder Gesetzesbegutachtung und Bürgernähe
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte waren im Beobachtungszeitraum mit 193 Gesetzesentwürfen und Verordnungen konfrontiert, und mussten dabei mit immer kürzer werdenden Begutachtungsfristen zurechtkommen, die zum Teil eine gewissenhafte und detaillierte Untersuchung des Gesetzesentwurfes nur schwer möglich machen (Seite 16/17). Negativer Rekordhalter: das Universitätsgesetz mit einer Begutachtungsfrist von ursprünglich 4 Tagen. „Gesetzesvorlagen sollten daher erst nach nachweislicher, umfassender Begutachtung im Nationalrat beschlossen werden. Deshalb sollte der Nationalrat dann, wenn eine Begutachtung nicht oder in nicht ausreichender Frist erfolgte, die Behandlung eines Gesetzesentwurfes ablehnen“, so Wolff.
Um das drastisch gesunkene Vertrauen der österreichischen Bevölkerung in ihre Justiz nachhaltig zu verbessern ist Bürgernähe und Bürgerservice ein wesentlicher Schritt. Dass der öffentliche Gerichtsbetrieb und der Parteienverkehr in manchen Bundesländern nur noch auf wenige Stunden in der Woche beschränkt ist, scheint hier kontraproduktiv (Seite 13/14). So sind etwa in Salzburg seit Juli manche Bezirksgerichte nur mehr an drei Vormittagen in der Woche geöffnet. Als Grund für die Schließungen werden die hohen Kosten für Sicherheitskontrollen angeführt. „Der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu Recht und Gericht kann aber nicht einfach aus Kostengründen eingeschränkt werden, zumal die österreichische Justiz im internationalen Vergleich einen exorbitant hohen Kostendeckungsgrad aufweist“, gibt Wolff zu bedenken. Wenn bei hohen Gebühren Leistungen zurückgefahren werden müssen, dränge sich der Verdacht auf, dass die Justiz das Budget quersubventionieren muss, was für die österreichischen Rechtsanwälte untragbar wäre.
Auch die im Zuge des letzten Budgetbegleitgesetzes umgesetzte Abschaffung der sogenannten „verhandlungsfreien Zeit“ während der Urlaubszeit im Sommer und über Weihnachten hat in der Praxis zu den befürchteten Problemen geführt. Aufgrund urlaubsbedingter Abwesenheit von Zeugen, Parteien und Sachverständigen konnten viele Verhandlungen gar nicht stattfinden und mussten vertagt werden. Die Verfahren wurden dadurch, wie im Vorfeld von den Rechtsanwälten befürchtet, genau eben nicht beschleunigt, sondern verzögert. Zudem mussten von den Anwälten oft vorsichtshalber Rechtsmittel eingelegt werden, weil eine fristgerechte Rücksprache mit dem Mandanten während der Urlaubszeit in vielen Fällen nicht möglich war, was zu einem Mehraufwand in den Anwaltskanzleien genauso, wie in den Gerichtskanzleien führte. „Die Rechtsanwälte fordern daher, die verhandlungsfreie Zeit wieder einzuführen, da die Verfahren durch die Abschaffung nicht effizienter sondern länger, aufwendiger und kostspieliger geworden sind“, so Wolff.
Zwtl.: Wolff: „Rechtsstaatlichkeit beginnt bei der Wahrung von Parteienrechten.“
Zahlreiche Beschwerden gab es in Zusammenhang mit verweigerter oder erschwerter Akteneinsicht, insbesondere im Asylverfahren aber auch im Strafverfahren (Seite 25 bzw 30/31). „Das Recht auf Akteneinsicht durch Rechtsvertreter ist fundamental für ein rechtsstaatlich faires Verfahren“, erklärt Wolff. Werde Akteneinsicht nicht gewährt oder wesentlich erschwert, so sei das gesamte Verfahren rechtswidrig.
Desweiteren wird immer wieder von äußerst kurzfristigen Bestellungen von Verfahrenshilfeverteidigern durch die Gerichte berichtet. Aus Salzburg liegt ein Fall vor, in dem die Bestellung so kurzfristig vor der Verhandlung erfolgte, dass der Verfahrenshilfeverteidiger keine Gelegenheit mehr hatte, den Akteninhalt mit seinem Klienten zu besprechen (Seite 32/33). „Auch auf diese Weise werden die Rechte des Angeklagten auf rechtsstaatlich bedenkliche Weise beschnitten. Dies erscheint in Anbetracht des Rechtes auf ein faires Verfahren als höchst bedenklich“, so Wolff.
Auch zum Teil massive Verfahrensverschleppungen sind Bestandteil des diesjährigen Wahrnehmungsberichtes. Ein besonders schwerer Fall wurde aus Salzburg berichtet: Nach einem schweren Verkehrsunfall mit zwei Toten und mehreren Schwerverletzten wurde im Jänner 2010 ein KFZ-Sachverständiger damit beauftragt, binnen 4 Wochen ein Gutachten zum Unfallhergang zu erstellen. Dieses liegt trotz mehrfacher Urgenzen des Anwaltes der Geschädigten auch eineinhalb Jahre später immer noch nicht vor. Besonders tragisch ist in diesem Fall, dass die Betroffenen neben schweren körperlichen Dauerfolgen auch unter Traumatisierungszuständen leiden und mit existentiellen Problemen kämpfen, da sie teilweise ihre bisherigen Berufe nicht mehr ausüben können. Die Schadenersatzansprüche der Betroffenen wurden aufgrund des fehlenden Gutachtens zur Verschuldensfrage abschlägig beschieden (Seite 35).
Zwtl.: Wolff: „In der „Initiative Justiz“ werden die österreichischen Rechtsanwälte ihren Beitrag leisten, das Vertrauen in unsere Justiz zu verbessern.“
In der „Initiative Justiz“ wird die österreichische Rechtsanwaltschaft ihren Beitrag dazu leisten, das Ansehen der Justiz in der Öffentlichkeit zu verbessern: Alle Beteiligten – Richter, Staatsanwälte, Rechtspfleger, Notare und das Justizministerium - werden eingeladen an diesem konstruktiven Dialog teilzunehmen. Ein erster Gesprächstermin wird Ende Jänner 2012 stattfinden. „Ziel ist es, Beobachtungen auszutauschen und Maßnahmen zu diskutieren, mit denen das Vertrauen der Bevölkerung in die heimische Justiz wieder gestärkt werden kann“, erklärt Wolff.
Auch die 40. Europäische Präsidentenkonferenz der Anwaltsorganisationen wird sich im Februar 2012 in Wien mit dem Thema „Justiz in Gefahr – was tun?“ befassen. In ganz Europa ist derzeit, vor allem unter dem Druck der schweren Finanzkrise, eine Tendenz auszumachen, die massive Einschnitte in die einzelnen Justizsysteme mit sich bringt. Dieser demokratiepolitisch und rechtsstaatlich äußerst bedenklichen Entwicklung gilt es entgegenzutreten. „Die Rechtsanwälte Europas werden diesem Druck im Interesse der Bürgerinnen und Bürger entgegenwirken“, so Wolff.
„Mit dem Ergebnis der Initiative Justiz und der Europäischen Präsidentenkonferenz werden wir auch die Vizepräsidentin der EU-Kommission und Justizkommissarin Vivanne Reding befassen, von der ich weiß, dass Sie unsere Bestrebungen für Rechtsstaatlichkeit in Europa unterstützt, und auch den Mut hat, für diese Anliegen einzutreten“, zeigt sich Wolff überzeugt vom Gelingen seiner „Initiative Justiz“ für mehr Rechtsstaat und mehr Bürgervertrauen in unser Rechtssystem.
In Österreich gibt es 5700 Rechtsanwälte und 1900 Rechtsanwaltsanwärter. Rechtsanwälte sind bestausgebildete und unabhängige Rechtsvertreter und -berater, die nur ihren Klienten verpflichtet und verantwortlich sind. Primäre Aufgabe ist der Schutz, die Verteidigung und die Durchsetzung der Rechte Einzelner. Dritten gegenüber sind Rechtsanwälte zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet, womit auch eine völlige Unabhängigkeit vom Staat gewährleistet wird. Vertreten werden die Rechtsanwälte durch die Rechtsanwaltskammern in den Bundesländern sowie durch den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag, ÖRAK, mit Sitz in Wien.
Rückfragehinweis:
Österreichischer Rechtsanwaltskammertag,
Bernhard Hruschka Bakk., Tel.: 01 535 12 75-15, 0699 104 165 18 hruschka@oerak.at, www.rechtsanwaelte.at