ÖRAK-Präsident Wolff: „Rechtsstaatlichkeit ist das Betriebssystem Europas. Rechtsanwälte sind Virenscan und Firewall zugleich.“
Der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) veranstaltet heute, Freitag, bereits zum 41. Mal die international angesehene und in dieser Form einzigartige Europäische Präsidentenkonferenz der Rechtsanwaltsorganisationen in Wien – die sogenannten „Wiener Advokatengespräche“. Was im Jahr 1973 in Wien als Überbrückung des Eisernen Vorhangs und Austausch zwischen Ost und West begann, ist 40 Jahre später zu einem bedeutenden Faktor der europäischen Justizpolitik angewachsen: ein Think Tank aus 200 Spitzenvertretern der Anwaltschaft und Justiz aus 35 Ländern. In der Vergangenheit ist es bereits einige Male gelungen, wichtige Impulse in der Rechtsentwicklung zu setzen.
In diesem Jahr steht das Thema „Grundrechte in Bedrängnis“ im Mittelpunkt der Beratungen. Gemeint sind damit aktuelle Entwicklungen, die im Schatten der Finanz- und Schuldenkrise die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger betreffen. In vielen europäischen Staaten stehen die Justizsysteme als Folge des EU-Rettungsschirmes unter massivem Druck: Budget- und Gehaltskürzungen in der Justiz von 20 Prozent und mehr sind keine Seltenheit (unter anderem in Portugal, Spanien, Slowakei, Irland, Litauen, Lettland, Rumänien, Griechenland). In anderen Ländern wurden Richtergehälter eingefroren (zB Großbritannien, Polen). „Derartige Eingriffe in die Gehälter von Richtern machen die unabhängige Rechtsprechung verwundbar für Beeinflussung von außen“, kommentiert ÖRAK-Präsident Rupert Wolff diese, die richterliche Unabhängigkeit gefährdende, Entwicklung.
Zugang zum Recht gleicht einer Reise im Mittelalter
Außerdem wurden in einigen Mitgliedstaaten die Gerichtsgebühren drastisch angehoben. Ziel derartiger Erhöhungen sei es nicht nur, die leeren Staatskassen zu füllen, sondern damit zugleich auch den Aktenanfall an den Gerichten zu reduzieren, erklärt Wolff. Darüber hinaus wird die Versorgung der Bevölkerung ausgedünnt, indem Gerichte geschlossen (zB in Österreich, Italien, Polen, Großbritannien, Niederlande, Belgien, Rumänien, Portugal, Griechenland, Irland) und Verfahrenshilfeleistungen zurückgefahren werden. Dadurch wird einerseits die Wirtschaft negativ beeinflusst, andererseits das Menschenrecht auf Zugang zum Recht verletzt. „Der Zugang zum Recht gleicht heute vielerorts einer Reise im Mittelalter:Pflastergeld, Chausseegeld, Wegezoll, Geleitsabgabe und Brückengebühr“, so Wolff. Allein das österreichische Gerichtsgebührengesetz umfasse 67 Din A4 Seiten.
Die Rechtsanwälte warnen daher auf nationaler und europäischer Ebene davor, die Rechtsstaaten nachhaltig zu schwächen. „Es darf nicht sein, dass die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger in Folge des europäischen Sparzwanges ausgehöhlt werden. Im Gegenteil: gerade in der Krise müssen die Grundrechte gestärkt werden“, so Wolff.
Die Rechtsanwälte fordern:
- Der Zugang zum Recht muss jeder Bürgerin und jedem Bürger offen stehen.
- Verfahren müssen in angemessener Zeit und in der erforderlichen Qualität abgewickelt werden.
- Die Unabhängigkeit von Richtern und Rechtsanwälten muss gestärkt werden. - Das Grundrecht der Bürger auf vertrauliche Kommunikation mit ihrem Anwalt, Arzt oder einem Journalisten darf nicht gebrochen werden.
- Sinnlose und überschießende Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger wie zB durch die Vorratsdatenspeicherung sind rückgängig zu machen.
- In jeder Auseinandersetzung ist Waffengleichheit sicherzustellen um ein faires Verfahren zu gewährleisten; insbesondere in Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern.
Rechtsstaatliche Updates notwendig
„Rechtsstaatlichkeit ist das Betriebssystem jedes Staates und Europas. Ein demokratischer Staat wird nur dann funktionieren, wenn dieses Betriebssystem vor Angriffen geschützt und regelmäßig durch Updates verbessert wird. Österreichs Anspruch sollte es sein, unser Betriebssystem zum Besten Europas zu entwickeln und die europäische Vorreiterrolle im Bereich der Justiz einzunehmen“, erklärt Wolff. Die Rechtsanwälte seien Virenscan und Firewall zugleich. Einerseits würden bestehende Defizite aufgezeigt und kritisiert, andererseits werde vor drohenden Fehlentwicklungen gewarnt.
Um frühzeitig, nämlich bereits bei der Gesetzgebung, mögliche Grundrechtsverletzungen zu erkennen und zu vermeiden, kündigt Wolff eine „Good Governance“-Initiative an. Diese beinhaltet die Forderung nach Transparenz und Bürgernähe in allen Gesetzgebungsprozessen. Zudem eine Stärkung des Parlamentarismus und eine Trennung der inzwischen schon chronischen Vermischung von Gesetzgebung und Verwaltung.
Als aktuelles Beispiel für rechtsstaatliche Defizite bei der Gesetzgebung nennt Wolff das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Begleitgesetz-Wehrrecht. Im Entwurf war darin eine gesetzliche Grundlage vorgesehen, die den Heeresnachrichtendiensten den direkten Zugriff auf Vorratsdaten ohne weitere Einschränkungen ermöglicht hätte. „Derart weitreichende Eingriffe in die Grund- und Freiheitsrechte dürfen nicht in harmlos scheinende Begleitgesetze eingebettet werden, sondern müssen offen und transparent diskutiert werden“, so Wolff.
Hochkarätige Keynote-Speaker
Referiert wurde zur Bedeutung der Pressefreiheit, des Redaktionsgeheimnisses und der Amtsverschwiegenheit aus journalistischer Sicht (Kurt Kuch, stellvertretender Chefredakteur NEWS), zur Stellung der Grundrechte und deren Schutz durch die Strafgerichte und Höchstgerichte, insbesondere den Obersten Gerichtshof (OGH-Präsident Hon.-Prof. Dr. Eckart Ratz), zur Stellung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) als Hüter der Grundrechte im Spannungsverhältnis zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (EGMR-Richterin Dr. Julia Laffranque) sowie über die Tendenzen der Grundrechtsbeschränkung in der EU als Folge des Rettungsschirmes und der durch die Troika geforderten Reformen (CCBE-Vizepräsident Michel Benichou).
Informationen zur Europäischen Präsidentenkonferenz sind unter www.e-p-k.at abrufbar.