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Anwaltstag 2019: Rechtsanwälte fordern Bekenntnis zum Rechtsstaat und ausreichende Finanzierung der Justiz

ÖRAK legt Tätigkeitsbericht vor: 20.420 Verfahrenshilfen im Vorjahr, Erhöhung der Pauschalvergütung für Verfahrenshilfen überfällig

Anlässlich des Anwaltstages 2019, der Freitag-Vormittag vor über 200 Festgästen, darunter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, im Salzburger Festspielhaus feierlich eröffnet wurde, legt der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) seinen jährlichen Tätigkeitsbericht vor: eine 84-Seiten starke Leistungs- und Sozialbilanz der österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Aufgezeigt wird darin der mannigfaltige Einsatz der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte für die Bürgerinnen und Bürger inner- und außerhalb der österreichischen Gerichtssäle. 

20.420 Verfahrenshilfen in Straf-, Zivil- und Verwaltungsverfahren 

Auch in diesem Jahr kann der Bericht mit beeindruckenden Zahlen aufwarten. Über 40.000 Bürgerinnen und Bürger wurden 2018 von den 6.389 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten (Stand per 31.12.2018) unentgeltlich vertreten oder beraten. Sei es im Rahmen der Verfahrenshilfe, der „Ersten Anwaltlichen Auskunft“, des Verteidigernotrufs oder im Rahmen von Beratungen und Vertretungen von (minderjährigen) Verbrechensopfern. 

Österreichweit erfolgten im Jahr 2018 exakt 20.420 Bestellungen von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten zu Verfahrenshelfern (14.315 in Strafsachen, 5.589 in Zivilsachen und 516 in Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, dem Verwaltungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichten). Der Wert der anwaltlichen Leistungen, die für die Betroffenen unentgeltlich erbracht wurden, betrug insgesamt ca 40 Millionen Euro. 

18.500 kostenlose Erstauskünfte, diverse weitere Serviceleistungen

Darüber hinaus erhielten rund 18.500 Bürgerinnen und Bürger kostenlosen anwaltlichen Rat im Rahmen der „Ersten Anwaltlichen Auskunft“ – ein Service der Rechtsanwaltskammern, das sich stetig steigender Beliebtheit erfreut. Der unter 0800 376 386 rund um die Uhr österreichweit erreichbare „Verteidigernotruf“ für festgenommene Beschuldigte verzeichnete allein im Jahr 2018 1.236 Kontaktaufnahmen. 2019 sind es bereits 928 (Stand 31. August 2019). Geleistet wurden außerdem zahlreiche kostenlose Verbrechensopferberatungen und Vertretungen von minderjährigen Gewalt- und Missbrauchsopfern. 

„Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sichern mit ihrem Einsatz den österreichischen Rechtsstaat. Tag für Tag. Die zahlreichen unentgeltlichen Tätigkeiten tragen dazu bei, auch jenen Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht zu verhelfen, die sich eine Durchsetzung ihrer Rechte sonst nicht leisten könnten, und sind ein ganz wesentlicher Beitrag für die Rechtsstaatlichkeit in unserem Land“, erklärte ÖRAK-Präsident Dr. Rupert Wolff anlässlich der Eröffnung des Anwaltstages. 

Rechtsanwälte fordern Erhöhung der Pauschalvergütung für Verfahrenshilfen

Kritik übte Wolff in seiner Eröffnungsrede am Ausbleiben der seit Jahren fälligen Anpassung der Pauschalvergütung, die von der Republik Österreich als Abgeltung der im Rahmen der Verfahrenshilfe erbrachten anwaltlichen Leistungen in die anwaltliche Pensionskasse zu erstatten ist. Diese Vergütung beläuft sich seit 2006 unverändert auf 18 Millionen Euro pro Jahr. Die im Rahmen der Verfahrenshilfe erbrachten anwaltlichen Leistungen sind mittlerweile aber auf 40 Millionen Euro pro Jahr angestiegen. 

„Wir fordern mit Nachdruck eine Erhöhung der Pauschalvergütung, so wie es das Gesetz klipp und klar vorsieht. Wir befinden uns seit Jahren in einem gesetzwidrigen Zustand, den die Anwaltschaft nicht länger hinnehmen wird“, machte Wolff deutlich. Dass die Rechtsanwaltschaft als einzige Berufsgruppe ohne staatlichen Pensionszuschuss nicht einmal mehr die Hälfte der von ihr für die Ärmsten erbrachten Leistungen vom Staat vergütet erhält, bezeichnete Wolff als völlig inakzeptabel. „Wir werden uns das nicht länger bieten lassen“, kündigte Wolff baldige Protestmaßnahmen an, „unsere Geduld ist am Ende!“.

Rechtsanwälte fordern Bekenntnis zum Rechtsstaat und ausreichende Finanzierung der Justiz

Mahnende Worte fand Wolff im Zusammenhang mit der besorgniserregenden Situation der heimischen Justiz, die seit Jahren an chronischer Unterfinanzierung leidet. „Eine Justiz ohne ausreichende Ressourcen funktioniert nicht und ein Rechtsstaat ohne funktionierende Justiz ist kein Rechtsstaat“, machte Wolff klar. Die Justiz müsse in vielen Bereichen, insbesondere beim Kanzleimanagement, personell und technisch besser ausgestattet werden. „Es funktioniert inzwischen hinten und vorne nicht mehr“, warnte Wolff eindringlich vor einem drohenden Stillstand an den Gerichten. „Wenn Urteile und Protokolle zwar diktiert, aber nicht verschriftet und ausgefertigt werden, dann steckt der Lift schon im Erdgeschoss des Rechtsstaates fest. Dann warten Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und vor allem die rechtsuchende Bevölkerung - auf nicht weniger als ihr Recht“, so Wolff. Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte fordern daher die nachhaltige Sicherstellung einer ausreichenden Finanzierung der österreichischen Justiz. „Die nächste Bundesregierung ist gefordert, ein Bekenntnis zum Rechtsstaat abzugeben, indem sie der Justiz endlich die für ihr Funktionieren erforderlichen Mittel zur Verfügung stellt“.

Besorgt zeigte sich Wolff angesichts der aktuellen rechtsstaatlichen Entwicklungen in einigen EU-Mitgliedstaaten, wie etwa Polen und Ungarn. „Dann, wenn die Politik versucht, die unabhängige Justiz, die Rechtsprechung, die freie Anwaltschaft unter Druck zu setzen, sie an die Kandare zu nehmen, immer dann ist höchste Vorsicht geboten“, warnte Wolff. Die Aushöhlung des Rechtsstaates geschehe nicht über Nacht, sondern sei eine schleichende Entwicklung. „Darum ist sie auch so gefährlich“, so Wolff, „Wir Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte werden niemals schweigen, wenn wir solche Tendenzen auch nur erahnen. Wir werden immer aufstehen und dagegen ankämpfen“, machte Wolff klar.

175 Gesetzes- und Verordnungsentwürfe begutachtet, Frist in 61 Prozent der Begutachtungsverfahren nicht eingehalten

Eifrig waren die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte bei der Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen. 175 Gesetzes- und Verordnungsentwürfe (37 mehr als im Vorjahr) wurden im Berichtszeitraum von ÖRAK-Expertinnen und Experten unter die Lupe genommen. Zwar wurde auch im vergangenen Jahr die vom Bundeskanzleramt empfohlene Mindest-Begutachtungsfrist von sechs Wochen in der überwiegenden Anzahl der Fälle nicht eingehalten, dennoch ist eine Verbesserung festzustellen.  

„Die vom Bundeskanzleramt vorgegebene Frist von sechs Wochen wurde in 61 Prozent der Begutachtungsverfahren nicht eingehalten. In 12 Prozent der Fälle standen sogar nur zwei Wochen oder weniger zur Verfügung“, so Wolff. Besonders kritisch sehen die Rechtsanwälte, dass Regierungsvorlagen und Initiativanträge immer häufiger gänzlich ohne vorherige Begutachtung oder Beratung im zuständigen parlamentarischen Ausschuss ihren Weg durch das Parlament finden. „Dadurch wird eine professionelle, kritische Analyse verunmöglicht und der öffentliche Diskurs verhindert“, ärgerte sich Wolff. Eine fundierte, sachliche Auseinandersetzung mit Gesetzesvorhaben werde dadurch ad absurdum geführt. 

Als aktuelles Negativbeispiel führte Wolff das am Mittwoch im Nationalrat beschlossene Gewaltschutzgesetz 2019 an, das ohne Berücksichtigung der 60 eingelangten Stellungnahmen und ohne vorherige Beratung im Justizausschuss kurz vor der Nationalratswahl durchgeboxt wurde. „Es ist Sand in die Augen der Bürger, die Mindeststrafen für Gewalt- und Sexualdelikte zu erhöhen, die Strafen für Jugendliche zu verschärfen und das als Gewaltschutz zu verkaufen“, so Wolff in seiner Eröffnungsrede.

Der ÖRAK-Tätigkeitsbericht 2019 ist ab sofort unter www.rechtsanwaelte.at/kammer/stellungnahmen/taetigkeitsbericht/ abrufbar. Informationen zu allen Serviceangeboten sowie das österreichweite, tagesaktuelle Rechtsanwaltsverzeichnis, in dem Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nach zahlreichen Kriterien gesucht werden können, sind unter www.rechtsanwaelte.at abrufbar.

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