Anlässlich des Anwaltsages 2018, der Freitag-Vormittag vor über 250 Festgästen in der Österreichischen Nationalbibliothek feierlich eröffnet wurde, legt der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) seinen jährlichen Tätigkeitsbericht vor: eine 64-Seiten starke Leistungs- und Sozialbilanz der österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Aufgezeigt wird darin der mannigfaltige Einsatz der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte für die Bürger in- und außerhalb der Gerichtssäle.
20.864 Verfahrenshilfen in Straf-, Zivil- und Verwaltungsverfahren
Auch in diesem Jahr kann der Bericht mit beeindruckenden Zahlen aufwarten. Über 40.000 Bürger wurden 2017 von den 6.238 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten (Stand per 31.12.2017) unentgeltlich vertreten oder beraten. Österreichweit erfolgten im Jahr 2017 exakt 20.864 Bestellungen von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten zu Verfahrenshelfern (14.479 in Strafsachen, 5.915 in Zivilsachen und 470 in Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, dem Verwaltungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichten). Der Wert der anwaltlichen Leistungen, die für die Betroffenen unentgeltlich erbracht wurden, betrug insgesamt ca 42 Millionen Euro.
18.000 kostenlose Erstauskünfte, diverse weitere Serviceleistungen
Darüber hinaus erhielten rund 18.000 Bürger kostenlos anwaltlichen Rat im Rahmen der „Ersten Anwaltlichen Auskunft“ – ein Service der Rechtsanwaltskammern, das sich steigender Beliebtheit erfreut. Der unter 0800 376 386 rund um die Uhr österreichweit erreichbare „Verteidigernotruf“ verzeichnete allein im Jahr 2017 1.422 Kontaktaufnahmen. 2018 sind es bereits 811 (Stand 31. August 2018). Geleistet wurden außerdem zahlreiche kostenlose Verbrechensopferberatungen und Vertretungen von minderjährigen Gewalt- und Missbrauchsopfern.
„Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sichern mit ihrem Einsatz den österreichischen Rechtsstaat. Tag für Tag. Die zahlreichen unentgeltlichen Tätigkeiten tragen dazu bei, auch jenen Bürgern zu ihrem Recht zu verhelfen, die sich eine Durchsetzung ihrer Rechte sonst nicht leisten könnten, und sind ein ganz wesentlicher Beitrag für die Rechtsstaatlichkeit in unserem Land“, erklärte ÖRAK-Präsident Dr. Rupert Wolff anlässlich der Vorstellung des Berichtes.
138 Gesetzes- und Verordnungsentwürfe begutachtet
Ebenso eifrig waren die Rechtsanwälte bei der Begutachtung von Gesetzen. 138 Gesetzes- und Verordnungsentwürfe (35 weniger als im Vorjahr) wurden im Berichtszeitraum von ÖRAK-Experten unter die Lupe genommen. Der Rückgang im Vergleich zum Vorjahr ist auf die im Oktober 2017 stattgefundene Nationalratswahl zurückzuführen. Anlass zur Kritik gab es freilich trotzdem häufig. Nicht nur an manchen Gesetzen, wie etwa dem viel diskutierten Sicherheitspaket, sondern auch grundsätzlicher Art. Bemängelt wird vor allem das Fehlen verbindlicher Gesetzgebungsstandards, wie auch das häufige Nicht-Einhalten der vom Bundeskanzleramt empfohlenen Mindest-Begutachtungsfrist von sechs Wochen.
Frist in 77 Prozent der Begutachtungsverfahren nicht eingehalten
„Die vom Bundeskanzleramt vorgegebene Frist von sechs Wochen wurde in 77 Prozent der Begutachtungsverfahren nicht eingehalten. Für ein Viertel der Begutachtungen standen sogar nur zwei Wochen oder weniger zur Verfügung“, so Wolff. Besonders kritisch sehen die Rechtsanwälte, dass Regierungsvorlagen immer häufiger gänzlich ohne vorherige Begutachtung ihren Weg ins Parlament finden. „Dadurch wird eine professionelle, kritische Analyse verunmöglicht und der öffentliche Diskurs verhindert“, ärgert sich Wolff. Wenn Regierungsvorlagen gelegentlich sogar schon während einer noch laufenden Begutachtung im Ministerrat beschlossen würden, führe das eine fundierte Auseinandersetzung mit Gesetzesvorhaben ad absurdum. „Wenn Gesetze ohne Begutachtung durchgeboxt werden, läuft etwas falsch“, so Wolff.
Beanstandet wird auch, dass neuerdings kritische Stellungnahmen anderer Ministerien mitunter gar nicht veröffentlicht werden, wie vor kurzem im Zuge der Begutachtung des Standortentwicklungsgesetzes festgestellt werden musste. „Ich halte es für besorgniserregend, wenn Kritik in einer Demokratie nicht offen geäußert werden kann“, so Wolff.
281 Gesetze und Verordnungen vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben
Dass die Kundmachung von Gesetzen zuweilen erst nach deren Inkrafttreten erfolgt, wie etwa zuletzt beim Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz Justiz und beim Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz BMASKG, ist ein weiterer Kritikpunkt der Rechtsanwälte. Wolff: „Wie sollen sich die Bürger an Gesetze halten, wenn diese zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens noch nicht einmal kundgemacht wurden?“
Durch die Statistik des Verfassungsgerichtshofes sehen sich die Rechtsanwälte in ihrer Kritik bestätigt. „187 Gesetze und 94 Verordnungen hat der Verfassungsgerichtshof in den Jahren 2014 bis 2016 ganz oder teilweise als verfassungswidrig aufgehoben“, gibt Wolff zu bedenken und sieht darin einen Beleg für den dringenden Handlungsbedarf, die Qualität der Gesetze zu verbessern.
Wolff: „Die Politik darf sich nicht vor den Bürgern fürchten“
Die Rechtsanwälte fordern die Einführung verbindlicher Mindeststandards im Gesetzgebungsverfahren, wie etwa eine Mindest-Begutachtungsfrist von sechs Wochen, deren Nichteinhaltung sanktioniert wird. Dadurch ließe sich die Qualität der Gesetze und somit auch die Akzeptanz in der Bevölkerung verbessern. „Die Politik darf sich nicht vor den Bürgern fürchten. Wir wünschen uns einen offenen Diskurs im Zuge eines transparenten und nachvollziehbaren Gesetzgebungsverfahrens“, so Wolff, „Otto von Bismarck sagte einst: „Je weniger die Leute davon wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie.“ Ich glaube nicht, dass sich die Politik in einem demokratischen Rechtsstaat - fast zwei Jahrhunderte später - noch immer an dieser Vorstellung orientieren sollte“.
Der ÖRAK-Tätigkeitsbericht 2018 ist ab sofort hier abrufbar.